Gottfried Kößler, Fritz Bauer Institut
Antisemitismus – ein schwieriges Thema für den Geschichtsunterricht
Stichworte vom Impulsreferat auf der Tagung
Integration und Ausgrenzung Deutsch-jüdisches Zusammenleben in der Geschichte. Erarbeitung neuer Sichtweisen für den Unterricht
Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, in Zusammenarbeit mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands und der Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt Halberstadt 15. – 17. April 2007
Antisemitismus heute
Die Stichpunkte sind als Ergänzung zum bestehenden Verständnis des Antisemitismus gedacht, nicht als erschöpfende Definition.
•Globalisierter Antisemitismus bleibt strukturell in der Kontinuität des europäischen Antisemitismus
•Die Gleichsetzung von Antisemitismus in islamischen Kontexten mit Islamismus ist nicht zwingend. Der Antisemitismus im arabischen Raum ist eng mit der Rezeption des Nahost-Konfliktes verknüpft. In Europa hingegen sind die europäischen Traditionen des Antisemitismus das Problem, mit dem sich Schule auseinanderzusetzen hat.
•Antisemitismus ist heute nur zu verstehen, wenn die Existenz Israels als ein Faktor für seine Erscheinungsformen bedacht wird. Israel ist selbstverständlich nicht Ursa-che des Antisemitismus, aber dieser wird auf Israel projiziert.
•Antisemitismus ist heute nur vor dem Hintergrund der Geschichte des Holocaust zu verstehen. Die Projektion von antisemitischen Topoi auf die Erinnerung an den Holocaust gehört zu den wichtigsten Formen des aktuellen Antisemitismus.
Schule
1. Schülerschaft
• Globalisiertes Klassenzimmer: Die SchülerInnen beziehen Meinungen und Informationen nicht nur aus deutschsprachigen Medien und oft aus anderen Zusammenhängen öffentlicher Debtatten oder Indoktrination. • Migranten und Geschichtsbewusstsein: Die Identitätsentwürfen deutscher Jugendlicher unterschiedlicher Herkunft folgen nicht notwendig der Ableitung aus der Herkunftskultur der Familie (Viola Georgi). Vielmehr werden Identitäten aus unterschied-lichen Kontexten bezogen und frei entwickelt. • Opferkonkurrenz bestimmt oft Konfliktlinien in deutschen Klassenzimmern (Polen, Russen, Palästinenser, Juden)
2.Lehrpläne + Schulbücher
2.1. Ist-Zustand
a) Geschichte dominiert statt politischer Bildung b) Juden erscheinen als „Problem der europäischen Geschichte“ c) Antisemitismus wird generell mit Juden konnotiert und nicht als Problem der Mehrheitsgesellschaft vorgestellt d) Moderner Antisemitismus wird erst im Kontext des Nationalsozialismus eingeführt und mit dem Anspruch moralischer Bildung verbunden e) Das angeeignete Wissen über die Ereignisgeschichte des Holocaust und die subjek-tive Erfahrung einer häufigen Beschäftigung mit diesem Thema sind inkongruent
2.2. Vorschläge
a) Deutsch-Israelische Schulbuchempfehlungen b) Jüdische Geschichte integrieren (Orientierungshilfe des Leo Baeck-Instituts) c) Antisemitismus und Prävention sind ein Thema für die politische Bildung und weniger für den Geschichtsunterricht: Aktueller Antisemitismus ist nicht mit dem NS-Antisemitismus gleichzusetzen d) Information über Ereignisgeschichte des Holocaust sollten im Unterricht von der mo-ralischen Bildung und der Demokratiebildung getrennt werden e) Antisemitismus ist als Teil der Volksgemeinschafts-Ideologie vorzustellen, deren Wurzeln im Konzept des Antagonismus zwischen Nationalvolk und den „Anderen“ liegen f) moderner Antisemitismus sollte als eine der Konsequenzen des „wissenschaftlichen Rassismus“, der Anthropologie nach 1850 eingeführt werden
3. Lehrkräfte
•Ein problematisches Phänomen ist die Bindung des Themas „Juden“ an den Holocaust und die „68er-Generation“ (vgl. Christian Schneider) Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationengeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik, in: Mittelweg 36, 4 / 2004) •Viele Lehrkräfte gehen verdeckte Allianzen mit SchülerInnen ein: Antiamerikanismus, Antiglobalisierung, verdrängte deutsche Opfergeschichte (vgl. Bernd Fechler, Anti-semitismus im globalisierten Klassenzimmer. Identitätspolitik, Opferkonkurrenzen und das Dilemma pädagogischer Intervention, in: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.), Neue Judenfeindschaft? Perspekti-ven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt am Main 2006, S. 187-209) •Die weit verbreitete Entfremdung vom Religiösen bringt Verständnisprobleme für reli-giöses Denken bei Lehrkräften und Schülern mit sich
Folgerungen
•Vgl. die Vorschläge für den Geschichtsunterricht unter 2.2.
•Schulisches Lernen und Politik sind zu trennen – die Zumutung der politischen Rhe-torik, dass Antisemitismus durch pädagogisches Handeln zu überwinden sei, ist zurückzuweisen. Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem, das nicht in erster Linie schulisch zu lösen ist
•Das Thema Holocaust ist kein „pädagogisches Instrument“ gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus
•Demokratieerziehung ist vor allem eine Aufgabe der politischen Bildung und Interven-tion, nicht in erster Linie der historischen Bildung
•Aufgabe des Unterrichts ist Information und Reflexion – nicht politische Prävention
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