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Chanukka-LeuchterChanukka-Leuchter Frankfurt a.M. 1680 - Jüdisches Museum Frankfurt

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Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer


Deutsc
hlands (VGD)

Moses Mendelssohn über Staat, Kirche, Judentum und Gesellschaft.
Quellen in Auszügen.

In seinem philosophischen Hauptwerk, aus dem die nachfolgenden Auszüge stammen, beschäftigte sich Mendelssohn, anders, als der Titel zunächst vermuten lässt, nicht nur mit Fragen des Judentums und seiner Stellung in der damaligen christlichen Gesellschaft. Vielmehr ist es eine grundsätzliche Abhandlung über Staat, Kirche und Gesellschaft, die in der Galerie der großen Werke der Aufklärung ihren Platz hat. In den nachfolgenden Auszügen soll zunächst dieser Teil, ausgehend von der kritischen Betrachtung der Staatslehren von Hobbes und Locke, dokumentiert werden, sofern solche philosophischen Werke überhaupt sinnvoll in Auszügen präsentiert werden können.

Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum,
von Moses Mendelssohn
Berlin 1783

Erster Teil.

 

[1.] Thomas Hobbes lebte zu einer Zeit, da der Fanatismus, mit einem unordentlichen Gefühle von Freyheit verbunden, keine Schranken mehr kannte, und im Begriffe war, wie ihm auch am Ende gelang, die königliche Gewalt unter den Fuß zu bringen, und die ganze Landesverfassung um zu stürzen. Der bürgerlichen Unruhen überdrüßig, und von Natur zum stillen, spekulativen Leben geneigt, setzte er die höchste Glück- seeligkeit in Ruhe und Sicherheit, sie mochte kommen, woher sie wollte; und diese fand er nirgend, als in der Einheit und Unzertrennlichkeit der höchsten Gewalt im Staate. Der öffent- lichen Wohlfarth, glaubte er also, sey am besten gerathen, wenn alles, sogar unser Urtheil über Recht und Unrecht, der höchsten Gewalt der bürgerlichen Obrigkeit unterworfen würde. Um dieses desto füglicher thun zu können, setzte er zum voraus, der Mensch habe von Natur die Befugniß zu allem, wozu er von ihr das Vermögen erhalten hat. Stand der Natur sey Stand des allgemeinen Aufruhrs, des Krieges aller wider alle, in welchem jeder mag, was er kann; alles Recht ist, wozu man Macht hat. Dieser unglückselige Zustand habe so lange gedauert, bis die Menschen übereingekommen, ihrem Elende ein Ende zu machen, auf Recht und Macht, in so weit es die öffentliche Sicherheit betrift, Verzicht zu thun, solche einer festgesetzten Obrigkeit in die Hände zu liefern, und nunmehr sey dasjenige Recht, was diese Obrigkeit befielt.

Für bürgerliche Freyheit hatte er entweder keinen Sinn, oder wollte er sie lieber vernichtet, als so gemißbraucht sehen. Um sich aber die Freyheit zu denken aus zu sparen, davon er selbst mehr als irgend jemand Gebrauch machte, nam er seine Zuflucht zu einer feinen Wendung. Alles Recht gründet sich, nach seinem System, auf Macht, und alle Verbindlichkeit auf Furcht; da nun Gott der Obrigkeit an Macht unendlich überlegen ist; so sey auch das Recht Gottes unendlich über das Recht der Obrigkeit erhaben, und die Furcht vor Gott verbinde uns zu Pflichten, die keiner Furcht vor der Obrigkeit weichen dürfen. […]

 

Locke, der in denselben verwirrungsvollen Zeitläuften lebte, suchte die Gewissensfreiheit auf eine andre Weise zu schirmen. In seinen Briefen über die Toleranz legt er die Definition zum Grunde: Ein Staat sey eine Gesellschaft von Menschen, die sich vereinigen, um ihre zeitliche Wohlfahrt gemeinschaftlich zu befördern. Hieraus folgt alsdann ganz natürlich, daß der Staat sich um die Gesinnungen der Bürger, ihre ewige Glückseligkeit betreffend, gar nicht zu bekümmern, sondern jeden zu dulden habe, der sich bürgerlich gut aufführt, das heißt seinen Mitbürgern, in Absicht ihrer zeitlichen Glückseligkeit, nicht hinderlich ist. Der Staat, als Staat, hat auf keine Verschiedenheit der Religionen zu sehen; denn Religion hat an und für sich auf das Zeitliche keinen nothwendigen Einfluß, und stehet blos durch die Willkühr der Menschen mit demselben in Verbindung.

Sehr wohl! Ließe sich der Zwist durch eine Worterklärung entscheiden; so wüßte ich keine bequemere, und wenn sich die unruhigen Köpfe seiner Zeit hiemit hätten die Intoleranz ausreden lassen; so würde der gute Locke nicht nöthig gehabt haben, so oft ins Elend zu wandern. Allein was hindert uns, fragen jene, daß wir nicht auch unsere ewige Wohlfarth gemeinschaftlich zu befördern suchen sollten? und in der That, was für Grund haben wir, die Absicht der Gesellschaft blos auf das Zeitliche einzuschränken? Wenn die Menschen ihre ewige Seligkeit durch öffentliche Vorkehrungen befördern können; so ist es ja ihre natürliche Pflicht es zu thun, ihre vernunftmäßige Schuldigkeit, daß sie sich auch in dieser Absicht zusammenthun, und in gesellschaftliche Verbindung treten. Ist aber dieses, und der Staat, als Staat, will sich blos mit dem Zeitlichen abgeben; so entstehet die Frage: wem sollen wir die Sorge für das Ewige antrauen? — Der Kirche? Nun sind wir auf einmal wieder da, wo wir ausgegangen waren. Staat und Kirche. — Sorge für das Zeitliche und Sorge für das Ewige — bürgerliche und kirchliche Autorität. Jene verhält sich zu dieser, wie die Wichtigkeit des Zeitlichen zur Wichtigkeit des Ewigen. Der Staat ist also der Religion untergeordnet; muß weichen, wenn eine Collision entstehet.  [...]

S. 12-14.


[2.] Ich habe mir die Begriffe von Staat und Religion, von ihren Gränzen und wechselweisem Einfluß auf einander, sowohl, als auf die Glückseligkeit des bürgerlichen Lebens, durch folgende Betrachtungen deutlich zu machen gesucht. So bald der Mensch zur Erkenntnis kömmt, daß er, ausserhalb der Gesellschaft, so wenig die Pflichten gegen sich selbst und gegen den Urheber seines Daseyns, als die Pflichten gegen seinen Nächsten erfüllen, und also ohne Gefühl seines Elends nicht länger in seinem einsamen Zustande bleiben kann; so ist er verbunden, denselben zu verlassen, mit seines gleichen in Gesellschaft zu treten, um durch gegenseitige Hülfe ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und durch gemeinsame Vor- kehrungen, ihr gemeinsames Beste zu befördern. Ihr gemeinsames Beste aber begreift das Gegenwärtige sowohl als das Zukünftige, das Geistliche sowohl als das Irdische, in sich. Eins ist von dem andern unzertrennlich. Ohne Erfüllung unserer Obliegenheiten ist für uns weder hie noch da; weder auf Erden, noch im Himmel, ein Glück zu erwarten. Nun gehöret zur wahren Erfüllung unserer Pflichten, zweyerlei: Handlung und Gesinnung. Durch die Handlung geschieht das, was die Pflicht erfordert, und die Gesinnung macht, daß es aus der wahren Quelle komme, d. i. aus ächten Bewegungs- gründen geschehe. [...]

 

Also Handlungen und Gesinnungen gehören zur Voll- kommenheit des Menschen, und die Gesellschaft hat, so viel als möglich, durch gemeinschaftliche Bemühungen für beides zu sorgen; d. i. die Handlungen der Mitglieder zum gemeinschaftlichen Besten zu lenken, und Gesinnungen zu veranlassen, die zu diesen Handlungen führen. Jenes ist die Regierung, dieses die Erziehung des geselligen Menschen. Zu beiden wird der Mensch durch Gründe geleitet, und zwar zu den Handlungen durch Bewegungsgründe, und zu den Gesinnungen durch Wahrheitsgründe. Die Gesellschaft hat also beide durch öffentliche Anstalten so einzurichten, daß sie zum allgemeinen Besten übereinstimmen.

Die Gründe, welche den Menschen zu vernünftigen Handlungen und Gesinnungen leiten, beruhen zum Theil auf Verhältnissen der Menschen gegen einander, zum Theil auf Verhältnissen der Menschen gegen ihren Urheber und Erhalter. Jene gehören für den Staat, diese für die Religion. In so weit die Handlungen und Gesinnungen der Menschen, durch Gründe, die aus ihren Verhältnissen gegen einander fliessen, gemeinnützig gemacht werden können, sind sie ein Gegenstand der bürgerlichen Verfassung; in so weit aber die Verhältnisse der Menschen gegen Gott, als Quelle derselben angenommen werden, gehören sie für die Kirche, Synagoge oder Moschee. [...]

S. 17-20.


[3.] Unter allen Umständen und Bedingungen aber halte ich es für einen untrüglichen Maaßstab von der Güte der Regierungsform, je mehr in derselben durch Sitten und Gesinnungen gewürkt, und also durch die Erziehungen selbst re-

giert wird. Mit andern Worten, je mehr dem Bürger Anlaß gegeben wird, anschauend zu erkennen, daß er auf einige seiner Rechte nur zum allgemeinen Besten Verzicht zu thun, von seinem Eigennutzen nur zum Behuf des Wohlwollens aufzuopfern hat, und also von der einen Seite durch Aeusserung des Wohlwollens eben so viel gewinnet, als er durch die Aufopferung verliert. Ja, daß er durch die Aufopferung selbst noch an innerer Glückseligkeit wuchere; indem diese das Verdienst und die Würde der wohlthätigen Handlung und also die wahre Vollkommenheit des Wohlwollenden vermehret. Es ist z. B. nicht rathsam, daß der Staat alle Pflichten der Menschenliebe, bis auf die Almosenpflege, übernehme, und in öffentliche Anstalten verwandele. Der Mensch fühlt seinen Werth, wenn er Mildthätigkeit ausübt; wenn er anschauend wahrnimmt, wie er durch seine Gabe die Noth seines Nebenmenschen erleichtert; wenn er giebt, weil er will. Giebt er aber, weil er muß; so fühlt er nur seine Fesseln. [...]

S.22-23

 

[4.] Im Grunde machen in dem System der menschlichen Pflichten, die gegen Gott keine besondere Abtheilung; sondern alle Pflichten des Menschen sind Obliegenheiten gegen Gott. Einige derselben gehen uns selbst, andere unsere Nebenmenschen an. Wir sollen, aus Liebe zu Gott, uns selbst vernünftig lieben, seine Geschöpfe lieben; so wie wir aus vernünftiger Liebe zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmenschen zu lieben.

Das System unserer Pflichten hat ein doppeltes Principium; das Verhältniß zwischen Menschen und Natur, und das Verhältniß zwischen Geschöpf und Schöpfer. Jenes ist Moralphilosophie, dieses Religion, und demjenigen, der von der Wahrheit überführt ist, daß die Naturverhältnisse nichts anders sind, als Aeusserungen des göttlichen Willens, dem fallen auch diese beiden Principien in einander, dem ist Sittenlehre der Vernunft heilig, wie Religion. Auch heischt die Religion, oder das Verhältniß zwischen Gott und Menschen keine andere Pflichten; sondern giebt jenen Pflichten und Obliegenheiten nur erhabnere Sanction. Gott bedarf unseres Beystandes nicht; verlanget keinen Dienst von uns*), keine Aufopferung un-

serer Rechte zu seinem Besten, keine Verzicht auf unsere Unabhängigkeit zu seinem Vortheil. Seine Rechte können mit den Unserigen nie in Streit und Irrung kommen. Er will nur unser Bestes, eines jeden Einzelnen Bestes, und dieses muß ja mit sich selbst bestehen, kann sich ja selbst nicht widersprechen. — [...]

S. 59-61.

 


[5.] Alle menschliche Verträge haben also der Kirche kein Recht auf Gut und Eigentum beylegen können, da sie ihrem Wesen nach auf keins derselben Anspruch machen, oder ein unvollkommenes Recht haben kann. Ihr kann also niemals ein Zwangsrecht zukommen, und den Mitgliedern kann keine Zwangspflicht gegen dieselbe aufgelegt werden Alle Rechte der Kirche sind, Vermahnen, Belehren, Stärken und Trösten, und die Pflichten der Bürger gegen die Kirche sind ein geneigtes Ohr und ein williges Herz.*)

So hat auch die Kirche kein Recht Handlungen zu belohnen oder zu bestrafen. Die bürgerlichen Handlungen gehören dem Staat, und die eigentlichen religiösen Handlungen lei- den, ihrer Natur nach, weder Zwang noch Bestechung. Sie flies- sen entweder aus freiem Antriebe der Seele, oder sind ein leeres Spiel, und dem wahren Geiste der Religion zu- wider. [...]

S.62-63.

[6.] Was wird also der Kirche für eine Regierungsform anzurathen seyn? — keine! — Wer soll entscheiden, wenn in Religionssachen Streitigkeiten entstehen? — Wem Gott die Fähigkeit gegeben, zu überzeugen. Was soll Regierungsform, wo nichts zu regieren ist; Obrigkeit, wo niemand Unterthan seyn darf; Richteramt, wo keine Rechte und Ansprüche zu entscheiden vorkommen? Weder Staat noch Kirche sind in Religionssachen befugte Richter; denn die Glieder der Gesellschaft haben ihnen durch keinen Vertrag dieses Recht einräumen können. [...]

S.68.


Im zweiten Teil des Buches geht Mendelssohn auf das Wesen des Judentums im Gegensatz zum Christentum und gegenüber der Kritik aus christlicher wie philosophisch-naturalistischer Sicht ein. Dennoch bleibt er seiner grundsätzlichen philosophiachen Betrachtung der Gesellschaft treu. Auch hier ist es schwierig, seine bereits stark komprinierte Argumentation in Auszügen adäquat zusammenzufassen.

Zweiter Teil.

[7] Es ist wahr: ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargethan und bewährt werden können. Nur darin täuscht ihn ein unrichtiger Begriff vom Judentum, wenn er glaubt, ich könne dieses nicht behaupten, ohne von der Religion meiner Väter abzuweichen. Ich halte dieses vielmehr für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion, und glaube, daß diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christ- lichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensegeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten ha- ben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbaret worden; aber keine Lehrmeinungen keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Vernunftsätze. Diese offenbaret der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen.

S.30-31

[8] Ich glaube also nicht, daß die Kräfte der menschlichen Vernunft nicht hinreichen, sie von den ewigen Wahrheiten zu überführen, die zur menschlichen Glückseligkeit unent- behrlich sind, und daß Gott ihnen solche auf eine über- natürliche Weise habe offenbaren müssen. Die dieses behaupten, sprechen der Allmacht oder der Güte Gottes auf der andern Seite ab, was sie auf der einen Seite seiner Güte zu zulegen glauben. Er war, nach ihrer Meinung gütig genug, den Menschen diejenigen Wahrheiten zu offenbaren, von welchen ihre Glückseligkeit abhänget; aber nicht allmächtig, oder nicht gütig genug, ihnen selbst die Kräfte zu verleihen, solche zu entdecken. Zudem macht man durch diese Behauptung die Nothwendigkeit einer übernatürlichen Offenba rung allgemeiner, als die Offenbarung selbst. Wenn denn das menschliche Geschlecht ohne Offenbarung verderbt und elend seyn müßte; warum hat denn der bey weitem größere Theil des selben von je her ohne wahre Offenbarung gelebet, oder warum müssen beide Indien war ten, bis es den Europäern gefällt, ihnen eini ge Tröster zu zusenden, die ihnen Bothschaft bringen sollen, ohne welche sie, dieser Meinung nach, weder tugendhaft, noch glückselig leben können? ihnen Bothschaft zu bringen, die sie ihren Umständen, und der Lage ihrer Erkenntniß nach, weder recht verstehen, noch gehörig brauchen können?

INach den Begriffen des wahren Judentums sind alle Bewohner der Erden zur Glückseligkeit berufen, und die Mittel derselben so ausgebrei tet, als die Menschheit selbst, so milde ausgespendet, als die Mittel sich des Hungers und anderer Naturbedürfnisse zu erwehren. Hier der rohen Natur überlassen, die ihre Kraft innerlich empfindet, und sich derselben bedienet, ohne sich in Wort und Vortrag anders, als höchst mangelhaft, und gleichsam stammelnd, auslas sen zu können; dort durch Wissenschaft und Kunst unterstützt, hellglänzend durch Worte, Bilder und Gleichnisse, durch welche die Wahrnehmungen des innern Sinnes in deutliche Zeichenerkenntniß verwandelt und aufgestellt werden. So oft es nützlich war, hat die Vorsehung unter jeder Nation der Erde weise Männer aufstehen lassen, und ihnen die Gabe verliehen, mit hellerem Auge in sich selbst, und um sich her zu schauen, die Werke Gottes zu betrachten, und ihre Erkenntnisse andern mitzutheilen Aber nicht zu allen Zeiten ist dieses nöthig oder nützlich. Sehr oft reichet, wie der Psalmist sagt, das Lallen der Kinder und Säuglinge hin, den Feind zu beschämen. Der einfältig le bende Mensch hat sich die Einwürfe noch nicht erkünstelt, die den Sophisten so sehr verwirren. Ihm ist das Wort Natur, der blosse Schall, noch nicht zu einem Wesen geworden, das die Gottheit verdrengen will. Er weis so gar noch wenig von dem Unterschiede zwischen mittelbarer und unmittelbarer Wirkung, und hört und siehet vielmehr die alles belebende Kraft der Gottheit überall: in jeder aufgehenden Sonne, in jedem Regen, der niederfällt, in jeder Blu me, die aufblühet, und in jedem Lamme, das auf der Wiese weidet und sich seines Daseyns freuet. Diese Vorstellungsart hat etwas fehlerhaftes; allein sie führet unmittelbar zur Erkenntniß eines unsichtbaren allmächtigen Wesens, dem wir alles Gute, das wir genießen, zu verdanken haben.

S.40-43.

[9] Ich komme wieder zu meiner vorigen Bemerkung. Das Judentum rühmet sich keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrheiten, die zur Seligkeit unentbehrlich sind; keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem man dieses Wort zu nehmen gewohnt ist. Ein anderes ist geoffenbarte Religion; ein anderes geoffenbarte Gesetz- gebung. Die Stimme, die sich an jenem großen Tage, auf Sinai hören ließ, rief nicht; „ich bin der „Ewige, dein Gott! das nothwendige, selbst „ständige Wesen, das allmächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem zukünftigen „Leben vergilt, nach ihrem Thun.“ Dieses ist allgemeine Menschen- religion, nicht Judentum; und allgemeine Menschenreligion, ohne welche die Menschen weder tugendhaft sind, noch glückselig werden können, sollte hier nicht geoffenbart werden. […]

Nein! alles dieses ward vorausgesetzt, ward vielleicht in den Vorbereitungstagen gelehrt, er örtert und durch menschliche Gründe ausser Zweifel gesetzt, und nun rief die göttliche Stimme: „Ich bin der ewige, dein Gott! der dich „aus dem Lande Mizraim geführt, aus der „Sklaverey befreiet hat u. s. w.“ Eine Geschichtswahrheit, auf die sich die Gesetzgebung dieses Volks gründen sollte, und Gesetze sollten hier geoffenbaret werden; Gebote, Verordnungen, keine ewige Religionswahrheiten.

S.48, 50


[10] Ob nun gleich dieses göttliche Buch, das wir durch Mosen empfangen haben, eigentlich ein Gesetzbuch seyn, und Verordnungen, Lebensregeln und Vorschriften enthalten soll; so schließt es gleichwohl, wie bekannt, einen unergründ- lichen Schatz von Vernunftwahrheiten und Religionslehren mit ein, die mit den Gesetzen so innigst verbunden sind, daß sie nur Eins ausmachen. Alle Gesetze beziehen, oder gründen sich auf ewige Vernunftwahrheiten, oder erinnern und erwecken zum Nachdenken über dieselben; so daß unsere Rabbinen mit Recht sagen: die Gesetze und Lehren verhalten sich gegen einander, wie Körper und Seele. [….]

Allein alle diese vortreflichen Lehrsätze werden dem Er- kenntniß dargestellt, der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben aufgedrungen zu werden. Unter allen Vorschriften und Verordnungen des Mosaischen Gesetzes, lautet kein Einziges: Du sollst glauben! oder nicht glauben; sondern alle heissen: du sollst thun, oder nicht thun! Dem Glauben wird nicht befohlen; denn der nimmt keine andere Befehle an, als die den Weg der Ueberzeugung zu ihm kommen. Alle Befehle des göttlichen Gesetzes sind an den Willen, an die Thatkraft der Menschen gerichtet. Ja, das Wort in der Grundsprache, das man durch Glauben zu übersetzen pflegt, heißt an den mehresten Stellen eigentlich Vertrauen, Zuver- sicht, getroste Versicherung auf Zusage und Verheissung.

 

Abraham vertraute dem Ewigen, und es ward ihm zur Gottseligkeit gerechnet (1 B. M. 15, 6.): die Israeliten sahen, und hatten Zutrauen zu dem Ewigen und zu Mosen, seinem Diener (2 B. M. 14, 31. Wo von ewigen Vernunftwahrheiten die Rede ist, heißt es nicht, glauben, sondern erkennen und wis sen. Damit du erkennest, daß der Ewige wahrer Gott, und ausser ihm keiner sey. (5 B. M. 4, 39.) Erkenne also und nimm dir zu Sinne, daß der Zerr allein Gott sey, oben im Himmel, so wie unten auf der Erde, und sonst niemand (daselbst). Vernimm Israel! der ewige, unser Gott ist ein Einziges, ewiges Wesen! (5 B. M. 6, 4.) Nirgend wird gesagt: glaube Israel, so wirst du gesegnet seyn; Zweifle nicht, Israel! oder diese und jene Strafe wird dich verfolgen. Gebot und Verbot, Belohnung und Strafen sind nur für Handlungen, für Thun und Lassen, die in des Menschen Willkühr stehen, und durch Begriffe vom Guten und Bösen, also auch von Hofnung und Furcht gelenkt werden. Glau be und Zweifel, Beyfall und Widerspruch hin gegen, richten sich nicht nach unserem Begehrungs- vermögen, nicht nach Wunsch und Verlangen, nicht nach Fürchten und Hoffen; sondern nach unserer Erkenntniß von Warheit und Unwahrheit.

Daher hat auch das alte Judentum keine symbolische Bücher, keine Glaubensartikel. Niemand durfte Symbola beschwöh- ren, nie mand ward auf Glaubensartikel beeidiget; ja, wir haben von dem, was man Glaubenseide nennet, gar keinen Begriff, und müssen sie, nach dem Geiste des ächten Judentums, für unstatthaft halten.

S. 52-56


[11] Im Grunde kömmt auch hier alles auf den Unterschied zwischen Glauben und Wissen. Religionslehren und Religions- geboten, an. Alles menschliche Wissen läßt sich allerdings auf wenige Fundamentalbegriffe einschränken, die zum Grunde gelegt werden. Je weniger, desto fester stehet das Gebäude. Aber Gesetze leiden keine Abkürzung. In ihnen ist alles fundamental, und in so weit können wir mit Grunde sa gen: uns sind alle Worte der Schrift, alle Gebote und Verbote Gottes fundamental. Wollt ihr gleichwohl die Quintessenz daraus haben; so höret, wie jener größere Lehrer der Nation, Hillel der ältere der vor der Zerstörung des zweyten Tempels lebte, sich dabey genommen. Ein Heide sprach: Rabbi, lehret mich das ganze Gesetz, indem ich auf einem Fuße stehe! Samai, an den er diese Zumuthung vorher ergehen ließ, hatte ihn mit Verachtung abgewiesen; allein der durch seine unüberwindliche Gelassenheit und Sanftmuth berühmte Hillel sprach: Sohn! liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses ist der Text des Gesetzes; alles übrige ist Kommentar. Nun gehe hin und lerne!

S.58

Die Originalausgaben erschienen bei Friedrich Maurer 1783 in Berlin Das gesamte Buch gibt es online im Deutschen Textarchiv, woraus der Text hier bezogen wurde, sowie bei Google.- Dîe Nutzung daraus ist nur zu nichtkommerziellen Zwecken gestattet.
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