Der „moderne“ Antisemitismus unterscheidet sich vom Antijudaismus des Mittelalters dadurch, dass er nicht mehr religiös geprägt ist, sondern sich gegen die Juden als „rassisch“ definierte Gruppe richtet. Es war eine Forderung nach Rückgängigmachung der Emanzipation.
Der Begriff „Antisemitismus“ wurde 1860 von dem Berliner Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal geprägt, der damit die „Charakteristik der semitischen Völker“ des französischen Philosophen und Sprachwissenschaftlers Ernest Renan kritisierte. Dieser Kritik an den „antisemitischen Vorurteilen“ Renans schloss sich im selben Jahr der Orientalist und Hebraist Moritz Steinschneider an, womit der Begriff in wissenschaftlichen Kreisen weiter verbreitet wurde. Eine politische Bedeutung bekam er in Deutschland 1879 erst durch Wilhelm Marr: In seiner Propagandaschrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet malte er ein Untergangsszenario durch jüdische Weltherrschaftspläne aus (Vorwegnahme der Protokolle der Weisen von Zion), bezeichnete diese mit dem Begriff „Semitismus“ und führte mit der Gründung einer „Antisemitenliga“ im selben Jahr den „Antisemitismus“ als „postiven“ Kampfbegriff ein. Er trug damit auch zu dem von Heinrich von Treitschke im selben Jahr begründeten, später so genannten „Berliner Antisemitismusstreit“ bei.
Durch Marr wurden die Begriffe „Semiten“, „semitisch“ synonym zu „Juden“, „jüdisch“. Für Renan galt der aus der Sprachwissenschaft stammende Begriff noch für alle semitischen Völker, also auch die Araber, denen er eine völkerpsychologische und „rassische“ Gemeinsamkeit unterstellte. Renans Begriff der „Race“ war noch vage kulturalistisch geprägt, er verstand darunter durch den „Instinkt“ verfestigte Charaktereigenschaften. Erst die in den folgenden Jahren entstehenden biologischen Rassentheorien in Verbindung mit Darwinismus und Erblehre schufen das pseudo-wissenschaftliche Fundament für eine allgemeine Rassenideologie, deren antisemitische (antijüdische) Komponente allerdings dort zunächst gar nicht im Mittelpunkt stand.
Mit seiner Betrachtung „vom nichtconfessionellen Standpunkt“ aus vollzog Marr eine klare Trennung zum früheren Antijudaismus. Damit sollte nicht nur die Akzeptanz der Konvertierten, sondern natürlich auch die seit 1871 vollzogene staatsbürgerliche Gleichstellung und gesellschaftliche Integration der Juden bekämpft werden, indem diese Integration als Unterwanderungs- und Eroberungsstrategie denunziert wurde. Weniger öffentlichkeitswirksam hatten Marr und andere Autoren schon seit den 1860er Jahren in diesem Sinne publiziert.
In dem sich popularisierenden Antisemitismus im Kaiserreich kamen alte und neue Aspekte zusammen: noch aus früherer Zeit stammende soziale Vorurteile (Wuchervorwurf etc.), eine Gegenbewegung zum Menschenrechts- und Gleichheitsprinzip und neue völkische und rassenideologische Vorstellungen, die auch unabhängig vom Antisemitismus mehr oder weniger das Selbstbewusstsein der (West-)Europäer in Zeiten des Nationalismus und Imperialismus prägten. Unter dem Einfluss des Sozialdarwinismus entstanden Phantasien vom „Rassenkampf“ als einem Kampf ums Dasein, der die ideologische und pseudo-moralische Rechtfertigung von Gewalt lieferte. Einen entsprechend radikalen Ausdruck im „modernen“ antisemitischen Sinne fand dies bereits bei Eugen Dühring 1881 in seinem Buch Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage.
Während in jenen Jahren eine Welle antisemitischer Pogrome im Zarenreich begann, erstarkte auch der Antisemitismus in Frankreich im Zusammenhang mit der „Dreyfus-Affäre“ (1894 Verurteilung von Alfred Dreyfus, 1898 „J’accuse“ von Emile Zola). 1903 entstanden offenbar in einer Kooperation französisch-russischer Autoren die Protokolle der Weisen von Zion, eine frei erfundene Schrift, die als angebliche Aufdeckung eines Geheimpapiers jüdischer Weltverschwörer nachhaltige Wirkung in der Öffentlichkeit zeitigte.
Ein weiteres Referenzwerk für die spätere NS-Ideologie war das 1898 publizierte Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain. Er griff darin die Idee von der „arischen Rasse“ des damals in Deutschland noch weitgehend unbekannten Grafen Gobineau auf, dessen Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (Frankreich 1853) erst daraufhin ins Deutsche übersetzt wurde. Während der Antisemitismus bei Gobineau noch keine Rolle gespielt hatte, stellte Chamberlain den Kampf zwischen „Ariern“ und „Juden“ in den Mittelpunkt seiner „Weltanschauung“.
Wolfgang Geiger
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