Last update 29.12.2019
Aktuell 1: Der Anschlag in Halle - Reaktionen und Analysen
Wir verweisen auf die Erklärung des Verbandes Hessischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer VHGLL vom 13.10.2019 und ergänzen folgendes (hier zunächst die Wiederholung des Textes von Aktuelles, eine weiterführende Analyse folgt demnächst):
Der antisemitisch motivierte Versuch, in der Synagoge von Halle am Jom Kippur (9.10.2019) ein Massaker anzurichten, vor dem Hintergrund einer ideologisch weiter gefassten abstrusen Verschwörungstheorie, wurde allein durch den notwendigen Selbstschutz der Synagoge vereitelt, nämlich die solide Tür. Durch die Überwachungskamera sah man von innen, wie der Täter auf die Tür schoss, und war in panischer Angst, er könne sie aufschießen. Wäre es ihm gelungen, wären außer den beiden Toten und den zwei Verletzten außerhalb noch viel mehr Opfer innerhalb zu beklagen, ähnlich wie bei dem Anschlag auf die zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland), der dem Täter ja auch als Vorbild diente.
Der Schock ist so schon groß, aber was wäre, wenn das Massaker gelungen wäre, mit Schusswaffen und Sprengstoff, und vielleicht 30, 40 oder 70 Toten unter den Gläubigen in der Synagoge?
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist verunsichert, obwohl alle sagen, dass es sie nicht wirklich überrascht hat. Sie sind allenfalls überrascht, dass ihre Warnungen, ihr Pessimismus sich bewahrheiten. In der Zeit vom 17.10. wirft Richard C. Schneider der Gesellschaft einen rituellen Umgang mit dem Antisemitismus vor, “lächerliche Mahnwachen” nach dem Ereignis statt effektive Prävention davor, eine alibimäßige Betroffenheit mit einem phrasenhaften “Nie wieder!” gegen etwas, das schon längst da ist. Schneider empfindet unsägliche Wut und Langeweile zugleich, schreibt er, “weil ich darüber schon jahrzehntelange schreibe. Immer und immer wieder. Nach jedem Attentat, nach jedem Anschlag, nach jedem neuen antisemitischen Skandal.”
Die Liste der schwereren antisemitischen Anschläge - Morde, Brandanschläge und entsprechende Versuche, Körperverletzung... - ist lang, wie auf Wikipedia nachzulesen, und sie sind nicht nur durch rechtsextreme Deutsche begangen worden, sondern auch von Täten mit arabischem bzw. muslimischem Hintergrund. Eine Chronik viel zahlreicherer antisemitischer Vorfälle kann man auch nach Jahr und Monat (seit 2002) und sogar nach Bundesland und Stadt bei der Amadeu-Antonio-Stiftung aufrufen, darunter auch bereits entsprechende Kommentare zu Halle.
Der Rechtsextremismus ist jahrelang gegenüber dem Islamismus vernachlässigt und in der Konsequenz verharmlost worden, das wird jetzt in Reaktion auf Halle auch von jenen in den Medien zugegeben, die direkt oder zumindest indirekt dafür verantwortlich sind. Die Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rassismus, Antisemitismus und für Demokratie wurde abgebaut, während man gleichzeitig den Antisemitismus “in der Mitte der Gesellschaft” beklagt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Schulen mangelnde Präventionsarbeit im Unterricht vorwirft. Auch wurde bei der Polizei eingespart, während deren Aufgaben stiegen. Letzteres soll sich jetzt ändern und so fragt die Amadeu-Antonio-Stiftung auf Belltower: “Warum wird nach Halle mehr Polizei gefordert und Demokratiearbeit gekürzt?”
Der Attentäter von Halle war ein Einzeltäter, aber kein Einzeldenker. Alle Elemente seiner Verschwörungstheorie sind von der Neuen Rechten aus in die sprichwörtliche Mitte der Gesellschaft getragen worden und beim Antisemitismus konnte sie auf eine ohnehin schon vorhandene Grundlage aufbauen, die sich durch Stereotypen, Klischees und daraus resultierenden Vorurteilen nicht nur in Form eines bewussten Antisemitismus zeigt, sondern oft und viel mehr auch noch unbewusst vorhanden ist. Jede neue Antismeitismusstudie belegt dies.
Auf die Frage “Was hat Ihr Sohn gegen Juden?” antwortete die Mutter des Attentäters von Halle, von rtl befragt: “Er hat ein falsches Vokabular. Er hat nix gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen. Wer hat das nicht?”
Hier zeigt sich erschreckend exemplarisch, wie uralte Vorurteile gegen die “Geldjuden” immer noch wirken, trotz eines gewissen Über-Ichs, das davor warnt, Juden als “Juden” zu attackieren, auch verbal nicht, “falsches Vokabular”. Doch die in der Synagoge versammelten Juden waren demnach Repräsentanten derjenigen, “die hinter der finanziellen Macht stehen.”
Dieses Vorurteil vom mittelalterlichen Geldverleiher über Joseph Süß Oppenheimer (“Jud Süß”) bis zum “Rothschild-Syndrom”, wie wir es nennen möchten, und den erfundenen “Protokollen der Weisen von Zion” mit ihrer angeblichen Weltverschwörung widerlegen wir hier auf unseren Seiten durch die belegbare historische Wahrheit. Ausführlich ist dies bereits hinsichtlich der Quelle dieser Vorurteile, nämlich das Mittelalter betreffend, gelungen, die anderen Teile sind noch in Arbeit.
Aktuell 2: Holocaustgeschichte in Forschung und Unterricht
Schwerpunkt von GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9/10, September/Oktober 2019 (>Friedrich-Verlag)
Inhalt zum Schwerpunkt: Frank Bajohr: Trends der Holocaustforschung seit den 1990er Jahren. Errungenschaften, Wandel, Probleme und Herausforderungen, S. 485-496. Dieter Pohl: Der Holocaust in der Gewaltgeschichte. Veränderte Perspektiven auf den Holocaust, S. 497-511. Sybille Steinbacher: “Räume” der Gewalt. Überlegungen zur Tragkraft eines Konjunkturbegriffs in der Holocaustforschung, S. 512-520. Birthe Kundrus: Komplexes schreiben. Zur Konjunktur von Tagebüchern in der Forschung zum Holocaust, S. 521-531. Susanne Heim: Holocaustforschung und -erinnerung. Die Quellensammlung “Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945” im Unterricht, S. 532-542.Martin Liepach: Zur Darstellung des Holocaust in den aktuellen Schulgeschichtsbüchern. Eine Bestandsaufnahme, S. 543-553. Information Neue Medien: Alessandra Sorbello-Staub: Wider das Vergessen: aktuelle Angebote zur Holocaustgeschichte, S. 568-570.
Aktuelles aus der Vergangenheit:
Die Grass-Debatte:
Last update 16.4.2012
Im Nachgang zum Grass-Gedicht sieht Christiane Hoffmann in der FAZ einen “Fluch der Geschichte” nicht darin, dass schon vor zehn Jahren, also weit vor dem aktuellen Konflikt in Nahost, von 60% der Deutschen Israel als “Bedrohung des Weltfriedens” sahen - die damalige Frage war schon unglaublich für die “Objektivität” von Meinungsforschern: “Welches Land halten Sie für eine Bedrohung des Weltfriedens ?” (Etwas weniger Wertungen gab es bei der Umfrage bein den USA, Nordkorea und Iran). Den “Fluch der Geschichte” sieht die FAZ im “Defizit an Demokratie”, das in der Tabuisierung der Diskussion über Israel bestehe - und auch anderen “Tabus”: Europa, Afghanistan... Ein wunderbares Beispiel für die Unterstützung der Grass’schen Strategie, Tabus einfach zu erfinden, um sich dann als “Demokrat” gegenüber diesem angeblichen “Demokratie-Defizit” in Pose setzen zu können.
Last update 9.4.2012
Pünktlich zu Pessach 5772 oder zum Ostermarsch 2012 ? Günter Grass und sein “Gedicht” als neues Beispiel, wie Israel ohne Kenntnis der Sachlage verurteilt wird und wie die Auseinandersetzung mit Israel kompensatorisch vor dem Hintergrund eines Problems mit der eigenen Vergangenheit erfolgt. Alle Ingredienzien des “sekundären Antisemitismus” sind vorhanden: 1. das angebliche Tabu die israelische Politik zu kritisieren, 2. die Antizipation des Vorwurfs, man sei Antisemit, wenn man dies tue, 3. die Umkehrung der Realität, hier freilich zu einem neuen Höhepunkt gesteigert: Israel könne und wolle den Iran “auslöschen” und bedrohe den Weltfrieden. Darf man israelische Politik kritisieren? Ja, aber warum erfolgt dies von denen, die behaupten, das dürfe man nicht, dann immer auf diese Weise? Ob der sich prompt einstellende Antisemitismusvorwurf die richtige Reaktion darauf ist, darf allerdings auch diskutiert werden, eine Pauschalisierung des Begriffes führt letztlich auch zu seiner Banalisierung und verhindert (oder behindert zumindest) die Auseinandersetzung mit den Inhalten und dem Hintergrund solcher Thesen.
Das Gedicht vom 4.4. auf Süddeutsche.de ; Reaktionen und Kommentare im Spiegel der Berichterstattung der SZ: 4.4., 5.5., noch einmal vom 5.5., 6.5. und noch einmal vom 6.5. sowie eine Übersicht über Grass’ spektakuläre Interviews und Aussagen gibt die SZ hier. Eine Presseschau vom 5.4. auf stern.de; eine Zusammenstellung politischer Reaktion auf T-Online; Reaktionen aus israel auf Zeit Online vom 4.4. und eine internationale Presseschau auf Spiegel Online; sowie die beiden tonangebenden Artikel von Henryk M. Broder auf Welt Online hier (“ewiger Antisemit”) und hier. Weitere lesenswerte Kommentare: Christian Böhme in The European auf T-Online und Josef Joffe auf Zeit Online.
Online-Abstimmung über Grass auf T-Online - wie repräsentativ das auch sein mag: hier.
Empfehlenswert finden wir die Kommentare zu Grass in der taz: von Klaus Hillenbrand und Micha Brumlik am 5./6.4. und Stefan Reinecke am 7./.8.9.4.2012. Ebenfalls verweisen wir auf die Interpretation des Gedichts in der FAZ von Frank Schirrmacher am 4.4. sowie auf die Analyse von Raphael Gross: “Antisemitismus ohne Antisemiten” in der Frankfurter Rundschau vom 7.4.2012
6./9.4.2012
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