Leitlinien fĂŒr die historisch-politische Behandlung des Themas:
Die Leitlinien gelten fĂŒr das richtige didaktisch-methodische Vorgehen der LehrkrĂ€fte inkl. der richtigen Reaktion auf problematische SchĂŒlerĂ€usserungen. – âRichtig“ heiĂt hier: wahrheitsgetreu bzgl. der Fakten (entspr. Wissen ist Voraussetzung), sachgerechte, argumentative Beurteilung statt wertender (Vor-)Verurteilung, Trennung von Analyse und Stellungnahme.
Oberste Maxime nach der deutsch-israelischen Schulbuchkommission (und nicht nur deswegen) ist, den Fokus auf die reine Konfliktgeschichte zu vermeiden. Das ist allerdings in der hypothetischen Situation punktueller Lehrerfortbildung und/oder des entsprechenden Unterrichts mit der dafĂŒr begrenzten Zeit zugegebenermaĂen unrealistisch. Umso mehr kommt es darauf an, diese Konfliktgeschichte trotzdem richtig zu behandeln.
1. Kein Geschichtsdeterminismus, d.h.:
ErklĂ€ren als Beantwortung der Frage âWarum?“; objektive Ursachen, subjektive GrĂŒnde, Motive, Perspektiven – Blick auf die unmittelbaren Folgen, d.h. keine Schlussfolgerung ĂŒber dazwischen liegende Etappen hinweg (â1948 - und so ist das ist heute“).
1a) Subjektiver Determinismus: Handlungen nicht als rein voluntaristisch erklÀren,
Darstellungen von Handlungen kollektiver Akteure als purer Ausdruck eines Willens verfĂ€llt in einen âsubjektiven Determinismus“, im Sinne von: âDas wollten sie (immer schon), das machten sie dann auch...“, auch wenn der subjektive Aspekt natĂŒrlich ein Faktor von mehreren ist. (Vgl. auch 3 Pauschalisierung)
1b) Objektiver Determinismus: Handlungen nicht alleine durch Ă€uĂere UmstĂ€nde erklĂ€ren,
ErklĂ€rungen und damit verbundene Rechtfertigungen von HandlungszusammenhĂ€ngen durch Ă€uĂere UmstĂ€nde, objektive Gegebenheiten etc. verfallen in âobjektiven Determinismus“, oft âgeopolitisch“ begrĂŒndet, aber auch im Sinne der Verkehrung des Voluntarismus in sein Gegenteil: âSie hatten/haben ja keine andere Wahl.“
2. Handlungen in den Kontext einbetten, v.a. ĂŒber Israelis und PalĂ€stinenser hinaus:
Der Nahostkonflikt betrifft tatsÀchlich die ganze Region in drei Kriegen mit den Nachbarstaaten und der jahrzehntelangen Nichtanerkennung der Existenz Israels.
3. Pauschalisierungen vermeiden, auch wenn man manchmal von âden Israelis“ und âden PalĂ€stinensern“ sprechen kann.
Soweit möglich die jeweiligen Akteure oder Verantwortlichen konkret benennen. die beiden Konfliktseiten nicht als homogen, sondern differenziert darstellen.
4. Erfolge benennen, welche de facto âvergessen“, weil vom Fokus auf die Konfliktgeschichte ĂŒberschattet sind, d.h. erfolgreiche Verhandlungen und Abkommen / Kompromisse herausstellen.
5. Die âverpassten Chancen“ darstellen, d.h.
Gescheiterte Alternativen berĂŒcksichtigen; âwas in der Vergangenheit nicht reĂŒssierte“ (Ernst Bloch) nicht als von vornherein âzum Scheitern verurteilt“ betrachten (vgl. 1 Determinismus und 4 Erfolge).
Sowie ganz grundsÀtzlich:
6. Methodische Richtlinien:
6a. Trennung von Darstellung, ErklÀrung und Wertung, d.h.
Darstellung von Begebenheiten soweit als möglich neutral, ErklĂ€rung der GrĂŒnde dafĂŒr ohne stĂ€ndige Wertung im Sinne eines Urteils mit Schuldzuweisung aus der heutigen Perspektive heraus (vgl. 1 und 6b).
6b. Unterscheidung zwischen Sachurteil und Werturteil
Sachurteil: Beurteilung (mit BegrĂŒndung) einer Sachaussage, ob zutreffend oder nicht, d.h. richtig oder falsch.
Werturteil: Bewertung eines Vorgangs oder einer Aussage nach bestimmten Kriterien (moralisch, politisch), ob gut oder schlecht.
Fallbeispiele:
Bei den Negativbeispielen geht es nicht um âMeinungsdelikte“, d.h. subjektive Wertungen (siehe Werturteil), sondern verfehlte Darstellungen von Sachverhalten mit einer vermeintlichen ErklĂ€rung.
Ad 1a) Subjektiver Determinismus
Das Beispiel, das sich de facto ĂŒberall findet und scheinbar vollkommen logisch den Konflikt in seinem Grundsatz erklĂ€rt, ist: âBeide streiten sich um dasselbe Land.“ Diese Aussage ist insofern falsch, als die jĂŒdische oder spĂ€ter israelische Seite den UN-Teilungsplan 1947 fĂŒr die StaatsgrĂŒndung 1948 akzeptierte, die arabische Seite jedoch nicht, weswegen Israel nach der StaatsgrĂŒndung von den Nachbarstaaten der Krieg erklĂ€rt wurde. Der Anspruch auf das ganze Territorium in den Grenzen des britischen Mandats PalĂ€stina wurde von den arabischen Staaten und den PalĂ€stinensern noch lange nach dem Sechstagekrieg 1967 aufrechterhalten und von der PLO erst in den Osloer Abkommen 1995/96 aufgegeben.
Ad 1b) Objektiver Determinismus
Bei der Frage nach dem Extremismus, Anwendung von Gewalt, wird man hinsichtlich der palĂ€stinensischen TerroranschlĂ€ge hĂ€ufig mit dem Argument konfrontiert: âSie haben ja keine andere Wahl.“ Damit soll eine eigene sachbezogene Wertung (gut oder schlecht) vermieden und das gewĂ€hlte Mittel zur Erreichung eines gerechten, legitimen Widerstandes als alternativlos dargestellt werden. NatĂŒrlich gibt es eine andere Wahl: Die Geschichte des Nahostkonflikts selbst zeigt, dass die erste Intifada, kein wirklich gewaltfreier, aber vergleichsweise gewaltarmer Widerstand der Zivilbevölkerung 1987ff. mehr Wirkung erzielt hat als alle Kriege und Terrorakte vorher und nachher, weil er die AnnĂ€herung beider Seiten zum Osloer Abkommen hin gefördert hat. Dasselbe Argument âkeine andere Wahl“ kann natĂŒrlich auch von Seiten der israelischen Regierung zur Legitimierung ihrer Entscheidungen kommen. Auch hier gilt, dass natĂŒrlich keine politische und militĂ€rische Entscheidung der Diskussion darĂŒber entzogen werden kann, auch wenn es in EinzelfĂ€llen echte Dilemmas geben mag. Pauschale Beurteilungen im RĂŒckblick wie âDaraus konnte nichts werden“, âDas konnte nur misslingen“ u.Ă€. sind deterministische ErklĂ€rungen, die die menschliche Handlungsfreiheit leugnen.
Ad 2: Handlungen in den Kontext einbetten
Zum Beispiel zum Thema Vertreibungen von PalĂ€stinensern 1948 auch die Vertreibungen jĂŒdischer Bevölkerung aus dem Irak und anderen arabischen Staaten erwĂ€hnen, die auf den UnabhĂ€ngigkeitskrieg folgten. Hier geht es nicht um eine Aufrechnung, obwohl diese nicht zu vermeiden ist, sondern darum, den Horizont des Konflikts zu verdeutlichen und einseitige Be-/Verurteilungen, die durch dessen Ausblendung entstehen, aufzulösen. Ein anderes Beispiel fĂŒr den notwendigen Kontext ist die Entstehung des Sechstagekrieges. Wenn die israelische Seite diesen als PrĂ€ventivkrieg gegen einen bevorstehenden Ă€gyptischen Angriff legitimiert, so muss dieses Argument ĂŒberprĂŒft werden, bevor man eine Wertung dazu abgibt. Oder aktuell das Argument der Selbstverteidigung Israels im Gazakrieg 2023. Nur von einem Rachefeldzug zu sprechen, auch wenn es ĂuĂerungen der Rache von israelischen Politikern nach dem Massaker vom 7.11. gab, ĂŒbergeht die Zielsetzung (Ausschaltung) der Hamas, die fĂŒr eine adĂ€quate Beurteilung notwendig ist, unabhĂ€ngig davon, wie die daraus folgende Bewertung aussehen mag.
Ad 3: Pauschalisierungen vermeiden
Soweit möglich die jeweiligen Akteure oder Verantwortlichen konkret benennen: Regierung, MilitĂ€r, PLO/Fatah, palĂ€stinensische Autonomiebehörde, Hamas etc.; die Identifizierung der Hamas mit âden PalĂ€stinensern“ oder âdem Recht der PalĂ€stinenser“ etec. ist von der Hamas gewollt, wer dem folgt, rechtfertigt ihre Strategie. Auf die verschiedenen, auch kontroversen Positionen auf jeder Seite verweisen, z.B. zwischen Fatah und Hamas, Regierungen und Opposition in Israel oder selbst innerhalb von Regierungsmehrheiten (siehe 5: Sharon), und grundsĂ€tzlich zwischen Extremisten und demokratischen KrĂ€ften unterscheiden.
Ad 4: Erfolge benennen
HauptsĂ€chlich den Vertrag von Oslo 1993, fĂŒr den beide Seiten (Premierminister Rabin und AuĂenminister Peres fĂŒr Israel, Jassir Arafat fĂŒr die PLO) einen Friedensnobelpreis bekommen haben, und die Nachfolgeregelungen. Die Torpedierung des Friedensabkommens in den folgenden Jahren macht dieses Abkommen nicht wertlos, âdaraus konnte nichts werden“ usw., vielmehr ist nach den GrĂŒnden dafĂŒr zu fragen. Die Tatsache der verschiedenen Abkommen widerlegt die Behauptung, dass Frieden durch Ausgleich grundsĂ€tzlich nicht möglich sei. Aussagen wie die von UN-GeneralsekretĂ€r Guterres am 24.10.2023, dass “das palĂ€stinensische Volk 56 Jahren erdrĂŒckender Besatzung unterworfen” sei (>FAZ 25.10.23), suggeriert einen dauerhaften Willen zur Besatzung seit 1967, indem es die besagten Abkommen leugnet.
Ad 5: Die âverpassten Chancen“ darstellen
Dies ist eng mit 4 verbunden. Verpasste Chancen situieren sich noch vor dem Zustandekommen von VertrĂ€gen. Hier ist v.a. an die Situation nach dem Sechstagekrieg 1967 zu denken, als das Angebot âLand gegen Frieden“ im Raum stand, vgl. auch UN-Resolution 242. FĂŒr diese verpasste Chance gibt es konkrete GrĂŒnde und keine deterministische ErklĂ€rung der Unmöglichkeit; zu nennen sind hierzu die âdrei Neins“ der Arabischen Liga und die Tatsache, dass dies den politischen KrĂ€ften in Israel in die HĂ€nde spielte, die aus den besetzten Gebieten vollendete Tatsachen schaffen wollten (u.a. durch die Siedlungsbewegung). Eine andere und gravierende verpasste Chance ist die RĂ€umung Gazas durch die israelischen Besatzungstruppen 2005 unter MinisterprĂ€sident Ariel Sharon. Die war ein konkretes und einseitiges Angebot âLand gegen Frieden“, Sharon hatte die Mehrheit seiner Likud-Partei gegen sich und die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Dies fĂŒhrte zur Regierungskrise und zur Spaltung der Partei, Sharon grĂŒndete die neue Partei Kadima (ein Beispiel fĂŒr die Differenzierung, siehe 3). Sein Nachfolger Ehud Olmert weitete das aus zum groĂzĂŒgigsten Angebot der RĂ€umung des Westjordanlandes, das bis dahin unterbreitet wurde (2008). Die PLO hĂ€tte in Gaza ein Vorbild fĂŒr den demokratischen und friedlichen Aufbau einer Teil-SouverĂ€nitĂ€t liefern können, doch die Hamas torpedierte dies und eröffnete sofort die Feindseligkeiten gegen Israel um jede Verhandlungslösung unmöglich zu machen - mit Erfolg. Mit dem Terroranschlag und Krieg 2023 zĂ€hlt man seit 2006 sieben Gaza-Konflikte oder -kriege.
Wolfgang Geiger, update 25.11.2023
Diese Handreichung gibt es auch als pdf: hier
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