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AG Deutsch-Jüdische Geschichte
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Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer
Deutschlands (VGD)
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Mittelalter 3:
Christen und Juden / Koexistenz und Konfrontation (1)
Thema:
Koexistenz und Konfrontation zwischen Christen und Juden in der mittelalterlichen Stadt
Ãœbersicht:
1. Judengasse: Kein Ghetto...
Teil 1 hier auf der Seite mit den Beispielen: Köln, Worms, Speyer, Frankfurt am Main. Teil 2 auf der Seite Mittelalter 3.2.: Erfurt und Straßburg sowie weitere Links zum Thema
2. Judenhut, Gelber Fleck oder Gelber Ring: auf Mittelalter 4
Note bene: Das Thema Ghetto wird seiner historischen Einordnung entsprechend auf der Seite Frühe Neuzeit behandelt.
Mittelalter 3.1.
Judengasse: Kein Ghetto... - Teil 1
Die falsche Vorstellung vom mittelalterlichen Ghetto findet sich in allen Schulbüchern - und nicht nur da -, und sei es, dass nur zwischen “Judengasse” und “Ghetto” nicht recht unterschieden wird (siehe ein Beispiel auf unserer Seite Frühe Neuzeit). Doch leider gibt es auch renommierte Historiker, die sich zwar in ihrem Spezialthema oder in ihrer Epoche auskennen, aber die jüdische Geschichte als eine Nebensache betrachten und dementsprechend Desinformationen verbreiten - bis hin zu reinen Phantastereien. Jüngstes Beispiel ist der emeritierte französische Mediävist Robert Fossier, der als ein Schüler - im akademischen Sinne - von Georges Duby gilt und mit seinem Buch Das Leben im Mittelalter eine Art rückblickende Summa seiner Arbeit veröffentlicht hat. Darin schreibt er unter anderem, dass das jüdische Volk “seit 1300 in abgeschlossenen ‘Ghettos’ leben musste” (S.373), was jeder Grundlage entbehrt, und dass das IV. Lateranische Konzil die Juden verpflichtete “eine besondere Kopfbedeckung, den ’Judenhut’, und ein Erkennungszeichen an ihrem Gewand, den ’Gelben Ring’ zu tragen“ (S. 371) - was in den Text hinein phantasiert ist, denn Judenhut und gelber Fleck tauchen im Konzilsdekret überhaupt nicht auf (siehe dazu ausführlicher unsere Seite Mittelalter 1 mit dem Quellentext).
Robert Fossier: Das Leben im Mittelalter, München (Piper) 2009. [Ces gens du Moyen Age, Paris, 2007]
Entsprechende Vorstellungen von einer radikalen Abgrenzung von den Juden seitens der christlichen Mehrheit in der mittelalterlichen Stadt kursieren natürlich auch im Internet, ebenso wie falsche Parallelisierungen zwischen der Judenverfolgung im Mittelalter und unter dem Nationalsozialismus.
Der historische Rückblick aus einer wohl gemeinten aber falsch verstandenen Perspektive der Verfolgung heraus verzerrt und verfälscht oft die historische Wirklichkeit. Es gab Diskriminierungen, Verfolgungen und Pogrome im Mittelalter, aber keineswegs eine Kontinuität der Verfolgung vom Mittelalter bis zum Holocaust. Dass es über lange Phasen hinweg auch ein Zusammenleben von Christen und Juden im Mittelalter gegeben hat, muss angesichts der existierenden Klischees ins historischen Bewusstsein gerufen werden, im Sinne der Orientierungshilfe der Wissenschaftlichen Kommission des Leo Baeck Instituts (Download über die Website des Jüdischen Museums Frankfurt: hier).
Die Ansiedlung der jüdischen Gemeinden in einer Straße, meisten Judengasse genannt, oder in einem Viertel zwischen mehreren Straßen war kein Akt der Diskriminierung, sondern entsprach den allgemeinen Gepflogenheiten, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen zusammen wohnten, so auch die nach Berufen organisierten Gassen. In einem historischen Rückblick heißt es in dem 1959 vom Rabbiner der Synagogengemeinde Köln herausgegebenen Buch über die Juden in Köln:
“Wie mittelalterliche Kaufleute in einem fremden Volke, so lebten auch die Juden in den verschiedenen Ländern und Städten des Mittelalters in einem besonderen Viertel, ohne daß dieses Viertel an und für sich eine Zwangswohnung war.”
Zvi Asaria (Hg.): Die Juden in Köln. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Köln (Bachem), 1959, S.43.
Ursprünglich war dies für die jüdische Ansiedlung sogar ein Privileg, weil den Juden ein Wohnbezirk zur Verfügung gestellt wurde. In Speyer, laut der ältesten diesbezüglich erhaltenen Quelle (siehe Mittelalter 1), war dies zunächst außerhalb des Ortes, dann innerhalb in unmittelbare Nähe des Doms. Vor der Errichtung der Ghettos am Ende des Mittelalters (erstmalig in Frankfurt am Main 1460/62) und v.a. in der Frühen Neuzeit (siehe dazu auf der Seite Frühe Neuzeit) gab es keine abgesonderten Wohnbezirke mit Kontaktverbot zwischen Christen und Juden. Die Tatsache, dass an einigen Orten im Mittelalter offenbar aus Sicherheitsmaßnahmen für die Juden verschließbare Tore angebracht wurden, bedeutet noch nicht die “Einschließung”der Einwohner.
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Köln
Bestes Beispiel hierfür - d.h. dafür, dass Abschließbarkeit noch nicht Eingeschlossensein bedeutet - ist Köln, das diesbezüglich leicht zu entsprechenden Missverständnissen führen kann; so heißt es auf einer jenen für die historische Recherche zweifelhaften Internetseiten (Juden.de) über die Juden im mittelalterlichen Köln:
“Dieses Viertel in der Altstadt, das mit eigenen Toren geschlossen werden konnte, war umrissen von der Portalgasse, der Judengasse, Unter Goldschmied und Obenmarspforten. Es war ausschließlich den Juden vorbehalten. Hiermit war das erste Ghetto in Köln geschaffen.” (hier)
Tatsächlich hatte dies noch nichts mit einem Ghetto zu tun. Das Kölner Judenviertel war auf Engste mit der christlichen Umwelt verflochten, grenzte es doch direkt an das Bürgerhaus (Rathaus), das es nach der Erweiterung des jüdischen Viertels im 13. und 14. Jh. sogar von drei Seiten aus einschloss. Wer nicht vom Alten Markt her kam, musste durch das Judenviertel zum Rathaus gehen. Nicht zufällig wurde schon in frühen Quellen das Rathaus inter judeos lokalisiert.
Eine Kontinuität der jüdischen Ansiedlung in Köln von der Antike (erste Erwähnung einem Dekret Kaiser Konstantins von 321) zum Mittelalter ist nicht nachgewiesen. Die früheste mittelalterliche Datierung liegt vor 800 und bezieht sich auf den Bau der Mikwe, was die Existenz einer Gemeinde nachweist, entsprechend ist der Bau der ersten Synagoge kurz danach einzuordnen (siehe Geschichte der Synagogen-Gemeinde Köln). Der Kreuzzugspogrom 1096 und ein nicht näher bekanntes Ereignis Mitte des 12. Jh.s, vielleicht eine Vertreibung aus der Stadt, stellten tiefe Einschnitte in der jüdischen Geschichte Kölns dar, 1266 erfolgte eine Wiederaufnahme der Gemeinde durch den Stadtrat mit der Zusicherzung von Schutz und exklusiven Rechten, darunter dem Geldverleih unter Ausschluss der christlichen Konkurrenten, der Cauvercini. (siehe dazu auf Mittelalter 2).
Von 1235 bis 1340 stieg die Zahl der jüdischen Haushalte von 50 auf 75 und damit einher ging wohl die Zunahme der sozialen Spannungen.
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In der Germanica Judaica ist zu lesen:
“1310 wird erstmals eine von den Juden unlängst erbaute Mauer erwähnt, welche die Juden gehörigen Häuser der Judengasse von den christlichen Häusern am Alten Markt trennte. Mauern zwischen jüdischem und christlichem Besitztum werden seit dem 12. Jahrhundert erwähnt, im 14. Jahrhundert mehrten sie sich. In den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts wurden auf Kosten der Juden die vier Straßen, die in das Judenviertel führten, durch Pforten verschlossen. Die Schlüssel verwahrte der Stadtbote; zur Pforte von der Engen Gasse erhielt der Judenbischof einen zweiten Schlüssel. Zu einer Anzahl von jüdischen Häusern war der Zutritt durch Türen von Unter Goldschmied aus möglich, unsicher ist auch die Abschließung nach Nordwesten, zum Kleinen Gäßchen hin. Zu allen Zeiten wohnten Christen im Viertel, auch das Rathaus (Bürgerhaus) befand sich dort, und deshalb entschied R.[abbi] Alexander Süsskint ha-Kohen, daß keine Meusot [sic, gemeint sind wohl Mesusot*] an den Pforten des Judenviertels anzubringen seien. Von einer vollständigen Abschließung kann also keine Rede sein.”
“Köln”, Germanica Judaica 2.1. Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, herausgeg. von Zvi Avneri, Tübingen (Mohr), 1968, S.424, 426.
* Mesusot, Pl. von Mesusa, kleine Behälter mit einer Schriftrolle, der nach der religiösen Tradition am Hautürpfosten angebracht wurde. Eine Mesusa an der Pforte zur Judengasse hätte eine wohl analoge Bedeutung für das gesamte Viertel gehabt.
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Dies verdeutlicht, dass es sich damals noch nicht um ein Ghetto handelte, in dem die jüdischen Einwohner abends und an christlichen Feiertagen eingeschlossen wurden, wie es später in Frankfurt a. M. der Fall war.
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Worms
Die Ansiedlung von Juden in Worms geht bis auf die 2. Hälfte des 10. Jh.s zurück, wo Juden aus Worms auf der Frankfurter Messe in Mainzer jüdischen Quellen erwähnt werden. Die Synagoge und damit ein vollständiges Gemeindeleben wurde jedoch erst 1034 gegründet. Es entstand die Judengasse, die sich in einem Bogen an der nördlichen Stadtmauer entlang zog, aber kein abgeschlossenes Wohnviertel war. Ursprünglich gab es hier eine Niederlassung friesischer Händler, die dann durch die Ansiedlung jüdischer Händler abgelöst wurde. Entsprechend hat sich wohl die Handelspolitik der Stadt vom Norden nach dem Süden umorientiert.
Die Wormser Gemeinde ist mit dem Namen des großen Gelehrten Raschi aus Troyes verbunden (Abkürzung von Rabbi Schlomo ben Jischak / Salomon ben Isaak, 1040 - 5.8.1105), der nach Mainz und Worms an die dort bereits existierenden Jeschiwot (Talmudhochschulen) kam, und selbst als berühmtester Gelehrter seiner Zeit in die Geschichte einging (siehe: Wikipedia, talmud.de, Bautz’ Bio-Bibliographisches Kirchenlexikon, Wissenschaftliches Bibellexikon Wibilex, Universität Frankfurt: Forschungsstelle für jüdisches Recht, Jewish Encyclopedia).
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Bild: Holzschnitt aus einer 1539 in Lyon gedruckten Ausgabe des Buches Postillae maiores totius anni cum glossis & quaestionibus von Wilhelm von Paris ( gest. 1314) - Wikimedia Commons
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Alte Synagoge von Worms, Vorderansicht, Tafel und Ansicht von der Rückseite aus.
Fotos W. Geiger, 1.8.2010
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In der Judengasse gab es sowohl christliche Bewohner als auch eine Ausbreitung der jüdischen Anwohner auf die angrenzenden südlichen Bezirke. Ende des 13. Jh.s gerieten die Juden zwischen die Fronten des andauernden Konflikts der Stadt mit dem Bischof einerseits und dem Kaiser andererseits, der sich bis ins 16. Jh. hinzog und zunächst mit der Unterstellung der jüdischen Gemeinde unter die alleinige Autorität der Stadt endete, dann aber Anfang des 17. Jh.s noch einmal auflebte.
Der Pestprogrom von 1349 setzte der ersten jüdischen Gemeinde auch hier ein vorläufiges gewaltsames Ende. Doch kurz danach gab es schon wieder eine Neuansiedlung, die Stadt selbst äußerte bereits 1353 ihren Willen dazu . 1376 lebten 36 Familien in der wieder aufgebauten Judengasse, d.h. ca. 180 Personen, jedoch unter schlechteren Bedingungen als zuvor: Der Aufenthalt war zeitlich befristet sowie räumlich auf die alte Judengasse beschränkt und es gab eine dafür zu leistende Sondersteuer an die Stadt. Der Rechtsstatus der Juden fiel jedoch , was die “passiven” Rechte angeht (Schutz und Freiheiten) nur wenig hinter den der regulären Bürger zurück, ausgeschlossen waren sie vielmehr von den “aktiven” Rechten der Bürger (Teilnahme am politischen Leben, so begrenzt dies damals ohnehin war, sowie die Rolle von Rechtsvertretern vor Gericht). Weitere politische und soziale Konflikte, in denen die Juden involviert wurden, führten im 15. und bis zu Beginn des 16. Jh.s zu einem Wechselbad aus versuchten Usurpationen des Judenschutzes durch die Stadt, die v.a. vom Bischof verhindert wurden, versuchten Vertreibungen, die vom Kaiser verhindert wurden, und erneuerten Judenordnungen.
Seit Ende des 14. Jh.s wurde der jüdische Wohnbereich also auf die Judengasse beschränkt, die Gasse aber noch nicht zum abgeschlossenen Ghetto. “Die Absonderung von der übrigen Stadt war erfolgt, obgleich nicht genau bekannt ist, ab wann das Judenviertel durch die Anbringung von Toren auch äußerlich zum Getto wurde.” (Reuter, S.61 - bibliograph. Angaben unten). Es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass soche Abschließungstendenzen parallel zur Errichtung des Frankfurter Ghettos 1460-62 entstanden (Bönnen, S.440). Mit den neuen und strengeren Judenordnungen von 1505 und dann definitiv von 1526, als die Stadt die Autorität über die jüdische Gemeinde gewann, haben sich offenbar die Abgrenzungen durchgesetzt:
Art. 13 der Judenordnung von 1526 “bringt erstmals den Hinweis auf ‘ihr gewöhnlich Zeichen’, das sie in der Stadt tragen sollen, den Judenfleck in Form des in Worms üblichen gelben Ringes auf schwarzem Mantel. Bei Strafe von 5 Gulden ist es ihnen unter- sagt, an hohen christlichen Feiertagen auszugehen, also sich außerhalb der Judengasse in der Stadt zu bewegen (genannt sind Karwoche, Ostertag, Christtag, Pfingsttag, Fronleichnam, Allerheiligen, alle Marientage, Aposteltage und Sonntage).” (Reuter, S. 72)
Die Androhung der Geldstrafe macht jedoch deutlich, dass die Möglichkeit zur strafbaren Handlung bestand, folglich die Juden- gasse nicht hermetisch verschlossen war. In der Judenordnung von 1584 findet sich noch ein präziserer Hinweis:
“An der Judengasse hing eine Torglocke, vor deren Morgenläuten kein Jude hinaus durfte und bei deren abendlichem Läuten alle Juden in die Judengasse zurückkehren mußten. (Art. 18).” (Reuter, S.78).
Damit wäre doch ein Datum für die Errichtung des Ghettos genannt, auch wenn es sich hier noch um eine erleichterte Variante handelte, da das Verlassen nur unter Strafe gestellt, nicht aber physisch durch Abschließung verhindert wurde. Die Öffnung und Schließung morgens und abends entspricht jedoch dem Vorbild Frankfurts.
Fritz Reuter: Warmaisa - 1000 Jahre Juden in Worms, Stadtarchiv Worms, 1984, 3. Aufl. 2009.
Gerold Brönnen: “Worms: Die Juden zwischen Stadt, Bischof und Reich”, in: Christoph Cluse (Hg.): Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer vom 20. bis 25. Oktober 2002, Trier (Kliomedia) 2004, S.432-442.
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Östlicher Ausgang der Judengasse in Worms, ehem. Judenpforte, an der im 13. Jh. erneuerten und verstärkten Stadtmauer. Der Durchbruch stammt aus moderner Zeit.
© Foto: W. Geiger
Links:
Website der Stadt Worms: Jüdisches Worms
Worms auf Alemannia Judaica
Der “Heilige Sand” - der älteste jüdische Friedhof Deutschlands im Panorama-Video sowie weitere Informationen zum jüdischen Worms sind auf der Website der Stadt Worms: hier.
Eine Darstellung der jüdischen Ansiedlung am Rhein gibt es auch auf Historia Interculturalis: „Privilegien“ oder „green card“ des Medium Aevum: Der Weg jüdischer Händler an den Rhein im frühen Mittelalter / hier.
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Speyer
Es wird vermutet, dass einzelne Juden bereits in den 70er Jahren des 11. Jh.s nach Speyer kamen und dort in der Stadt wohnhaft waren. 1084 gab es einen Zuzug einer größeren Gruppe, denen der Bischof Rüdiger Huozmann ein besonderes Wohngebiet sowie ein Friedhofsgelände durch Schenkung zuwies und dafür wie für die damit verbundenen Rechte das Privileg von 1084 ausstellte. Diese Urkunde ist die älteste überlieferte ihrer Art und hat durch unterschiedliche Lesarten der Handschrift und entsprechende Übersetzungen an einer Stelle sehr verschiedene Interpretationen hervorgebracht . Der Unterschied liegt in der Lesart eines Buchstabens der lateinischen Handschrift, wonach der Zaum um die Siedlung als Schutz vor dem Vieh (pecoris) oder vor dem Pöbel (peioris) dienen sollte. Die beiden Lesarten und Übersetzungen des Textbeginns lauten folgendermaßen:
(1) Ich, Rüdiger, auch Huozmann genannt, Bischof von Speyer. Als ich den Weiler Speyer in eine Stadt verwandelte, glaubte ich die Ehre unseres Ortes noch zu vergrößern, wenn ich die Juden vereinigte. Ich brachte sie darauf außerhalb der Gemeinschaft und des Zusammenwohnens mit den übrigen Bürgern, und damit sie durch den Übermut des Pöbels [peioris] nicht beunruhigt würden, umgab ich sie mit einer Mauer.
(2) Ich, Rüdiger, mit Beinamen Huozmann, Bischof von Speyer, glaubte in meinem Bestreben, aus der Kleinstadt Speyer eine Weltstadt zu machen, die Ehre unseres Ortes durch Ansiedlung von Juden noch mehr zu heben. Die herbeigeholten Juden siedelte ich deshalb außerhalb der Gemeinschaft und den Wohnplätzen der übrigen Bürger an und umgab ihre Siedlung mit einer Mauer, damit sie nicht durch Viehherden [pecoris] gestört werden.
Die Urkunde mit dem gesamten Text gibt es auf Mittelalter 1, den Nachweisen der verschiedenen Texteditionen sowie einem Faksimilé der Handschrift und einer Analyse der Textproblematik auf Speyer 1084.
Wir folgen der lange minoritär gebliebenen Interpretation 2, wonach die Juden zum Schutz vor dem Vieh vor der Stadt in einer dorfähnlichen Struktur, Alt-Speyer genannt, zunächst einmal provisorisch untergebracht wurden.
Eine jüdische Quelle aus der Mitte des 12. Jahrhunderts erklärt die Ansiedlung in Speyer als Flucht der Mainzer Juden nach dem Brand ihres Viertels, der auch auf die christlichen Wohnbezirke übergegriffen habe (vgl. in Debus, S.13, siehe bibl. Angaben weiter unten). Eine Pogromsituation als Auslöser für den Brand geht jedoch nicht eindeutig aus der Quelle hervor, wenn auch berichtet wird, dass die Mainzer Juden nach dem Brand in großer Angst waren und ein aus Worms nach dem Brand eingetroffener Jude von den Christen erschlagen wurde. Es könnte sich auch um einen erst durch den Brand motivierten Gewaltakt handeln, weil man den Juden die Schuld an Unglück gegeben hätte.
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Lokalisierung der jüdischen Ansiedlungen in Speyer, nachträglich eingetragen auf einem Stadtplan aus dem Jahr 1730. Zu jenem Zeitpunkt gab es seit langem keine Juden mehr in Speyer, die 1534 vertrieben wurden. Doch zeigt der Plan noch gut die Struktur der Altstadt mit den beiden Stadtmauern, von denen die innere aus der salischen Epoche des Stadtausbaus stammt. Der Plan ist gewestet, d.h. der Norden befindet sich rechts. Wikimedia Commons, bearbeitet von W. Geiger nach Plänen in Debus, S.14, und Engels, S.68 (siehe bibl. Angaben weiter unten).
1. Vermuteter Ort der ersten Ansiedlung vor der Stadt, 1084. - 2. ehem. jüdischer Friedhof 3. Judenpforte, nach dem Umzug in die Innenstadt so genannter Turm, der von den Juden zu bewachen war. 4. Judenhof, Mittelpunkt der innerstädtischen jüdischen Ansiedlung mit Synagoge und Mikwe. - 5. Erweiterung des Judenhofes
Zur Vergrößerung auf das Bild klicken.
Diese besonderen Bedingungen der jüdischen Ansiedlung in Speyer haben die Interpretation der Urkunde von 1084 in der Version Nr.1 von der Abschließung der Juden mittels eines Zauns zum Schutz vor dem “Pöbel” unterstützt und verschiedentlich sogar die Vorstellung von einem ersten Ghetto in Speyer erzeugt, so exemplarisch auf Wikipedia: “Ein frühes Beispiel für die Bildung eines Ghettos im Heiligen Römischen Reich stellt Speyer im 11. Jahrhundert dar.“ (hier). Das Verfolgungsparadigma nach Lesart Nr.1 der Urkunde wurde auch noch durch den tatsächlich bereits 12 Jahre später erfolgten Kreuzzugspogrom erhärtet, dem gerade die Speyerer Juden als einzige Gemeinde dank des Schutzes durch den Bischof entgingen, nur einige wenige fielen den Mordanschlägen zum Opfer.
Es ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, dass der Bischof 1084 seine eigenen Leute als “Pöbel” in einer offiziellen Urkunde apostrophiert, außerdem sieht die Urkunde den engsten Umgang zwischen Juden und Christen in Worms vor, sowohl beruflich als auch sozial, nichts deutet auf eine ghettoähnliche Abschließung hin. Archäologische Funde und die wenigen schriftlichen Informationen über die Präsenz von Juden vor 1084 machen auch zweifelsfrei deutlich, dass die Umsiedlung in den Judenhof beim Dom 1096 zwar unter dem Druck der Kreuzfahrer erfolgte, aber in ein bereits für diese Besiedlung weitgehend vorbereitetes Terrain. Es ist sogar äußerst wahrscheinlich, dass die Vorbereitungen zum Bau der Synagoge sowie die Umgestaltung des für den Judenhof vorgesehenen Viertels mit dem Abriss vorheriger Gebäude bereits vor 1084 begonnen wurden. Die Ansiedlung außerhalb der Stadt erfolgte somit lediglich als ein den Umständen geschuldetes Provisorium.
Die jüdische Ansiedlung in der Innenstadt hatte nur einen kleinen autonomen Bereich um Synagoge und Mikwe herum, den “Judenhof”. Davon ausgehend dehnten sich die von Juden bewohnten Häuser auch über die Straßen hin aus, in engster Nachbarschaft zur christlichen Bevölkerung. Juden und Christen lebten nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander. Miet- und Kaufverträge aus dem Hochmittelalter unterstreichen dies. Weit weniger als z.B. in Worms kann daher von einem räumlich abgegrenzten jüdischen Viertel gesprochen werden. Die mittelalterliche jüdische Siedlung in Speyer war damit von der Vorstellung vom Ghetto weit entfernt.
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Oben: “Judenhof” in Speyer mit den Resten der alten Synagoge. Aufnahme von 2009. Wikimedia Commons
Rechts und unten: Blicke auf die Synagoge von den anderen Seiten aus. Fotos von 2004. Wikimedia Commons: Bild 1, Bild2
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Oben: Eingang zur Mikwe
Rechts: Tauchbecken der Mikwe. Eine moderne touristische Unsitte ist es Münzen in den “Brunnen” zu werfen.
Fotos: W. Geiger, 1.10.2010
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Virtuelle Rekonstruktion der alten Synagoge, reproduziert und ausgestellt auf Leinwänden in den Ruinen im Judenhof.
Fotos: W. Geiger, 1.10.2010
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Literatur:
Karl Heinz Debus: “Geschichte der Juden in Speyer bis zum Beginn der Neuzeit“, in: Historischer Verein der Pfalz, Bezirksgruppe Speyer: Die Juden von Speyer. Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte Nr.9, Speyer, 3. Aufl. 2004, S.1-62.
Werner Transier: “Die SCHUM-Gemeinden. Wiegen und Zentren des Judentums am Rhein im Mittelalter”, in: Europas Juden im Mittelalter, herausgeg. vom Historischen Museum der Pfalz, Speyer (H. Cantz), 2004, S.59-68.
Renate Engels: “Topographie des jüdischen Speyer im Mittelalter”, in: Europas Juden im Mittelalter, op. cit., S.69-76.
Pia Heberer: “Die mittelalterliche Synagoge in Speyer. Bauforschung und Rekonstruktion”, in: Europas Juden im Mittelalter, op. cit., S.77-82.
Monika Porsche: “Die mittelalterliche Synagoge in Speyer”, in: Egon Wamers / Fritz Backhaus (Hg.): Synagogen, Mikwen, Siedlungen. Jüdisches Alltagsleben im Lichte neuer archäologischer Funde. Schriften des Archäologischen Museums Frankfurt 19, Frankfurt (Archäologisches Musum), 2004, S.129-138.
Links:
Vgl. die Seite zu Speyer der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Pfalz - hier
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Frankfurt am Main
Anders als für die rheinischen Gemeinden ist eine genaue Datierung der Entstehung einer jüdischen Gemeinde in Frankfurt aufgrund fehlender Dokumente nicht möglich. Da Frankfurt nicht im Rahmen der Kreuzzugsprogrome 1096 erwähnt wird, dürfte damals also noch keine dauerhafte Ansiedlung bestanden haben, folgert Isidor Kracauer (Geschichte der Juden in Frankfurt 1150- 1828, Bd.1, Frankfurt a.M. 1906, S.2, >>online). Die erste Erwähnung von Juden in Frankfurt, die auf die Existenz einer Gemeinde schließen lässt, gibt es in dem Buch Eben ha-Eser des Rabbi Elieser ben Nathan aus Mainz (gest. um 1150).
Die später so genannte Judengasse war das 1462 am Stadtrand errichtete Ghetto (siehe auf Judengasse Frankfurt) und darf nicht mit dem mittelalterlichen Judenviertel verwechselt werden. Dieses erste Frankfurter Judenviertel erstreckte sich zwischen dem “Dom” (= Bartholomäuskirche, der später so genannte Kaiserdom war nie Bischofssitz und daher auch kein Dom) und dem Mainufer mit dem Hafen und Umschlagplatz für Waren (auf der Karte unten hinzuzudenken). Das Judenviertel lag damit in mehrfacher Hinsicht mitten in der Stadt. Als der Frankfurter Stadtrat Mitte des 15. Jh.s gegen die Präsenz der jüdischen Mitbewohner so nahe am Dom protestierte und schließlich die Errichtung der Judengasse als erstes Ghetto am damaligen Stadtrand durchsetze, da hatten die Frankfurter Bürger schon ein jahrhundetelanges Zusammenleben mit den Juden hinter sich, das nur durch zwei Pogrome, 1241 und 1349, getrübt worden war und worauf jeweils wieder relativ schnell eine Neuansiedlung erfolgte. Mit anderen Worten: Von diesen beiden Progromen abgesehen, hatten sich die Christen lange Zeit nicht an der Präsenz von Juden in unmittelbarer Nähe des Doms gestört.
Zum Ghetto Judengasse siehe auf unserer Seite Frühe Neuzeit. auf der Extraseite zur Frankfurter Judengasse sowie in der Infodatenbank des Jüdischen Museums / Museum Judengasse Frankfurtwww.judengasse.de
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Plan der Frankfurter Innenstadt mit dem alten Judenviertel bis 1349 bzw. 1462. Ursprüngliche Zeichnung von Christian Ludwig Thomas, in: Isidor Kracauer: Geschichte der Frankfurter Juden im Mittelalter, Frankfurt a.M. (Kaufmann), 1914.
Wikimedia Commons
Ausschnittvergrößerung (W.G.)
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W. Geiger, 3.8. / 23.8.2010 / 10.10.2010 / 20.22.2010 / 31.12.2011
Weiteres folgt...
Auf der Seite Mittelalter 3.2.: Erfurt und Straßburg.
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